Flüchtlingspolitik

Aufnahme minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter aus Seenot

Redebeitrag Thomas Rüscher, BfB Fraktion, zu TOP 5 „Aufnahme minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter aus Seenot“ in der Ratssitzung am 27.09.2018:

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!
Kein Mensch soll ertrinken, egal wo, egal wer! Jeder mit einem noch so schwachen moralischen Kompass ausgestattete Mensch muss dieser Aussage vorbehaltlos zustimmen.

Darum geht es aber in der Beschlussvorlage nicht, es geht um die Aufnahme von Menschen, die bereits aus Seenot gerettet wurden, siehe Punkt 1 des Beschlussvorschlags. Präzision in der Sache ist hilfreich, wenn man zu einer vernünftigen Entscheidung kommen möchte, und gelegentlich bleibt bei Debatten in diesem Gremium diese Präzision auf der Strecke. Ich erinnere nur an die hier diskutierte Resolution gegen Atomwaffen, bei der die Debattenbeiträge der Grünen und Linken um Tschernobyl und Fukushima kreisten – unzweifelhaft dramatische Ereignisse, jedoch ohne Zusammenhang zu Atomwaffen.

Die Feststellung in der Vorlage, dass die europäische Flüchtlingspolitik versagt, ist leider richtig. Die Politik versagt an vielen Stellen, es gibt unzählige humanitäre Katastrophen auf der Welt. Ich denke da unter anderem an die Menschen, die unter dem Krieg im Jemen leiden, einem Konflikt, bei dem der Westen nur zuschaut. Fraglich ist aus meiner Sicht, ob die Stadt Bielefeld das Versagen der Politik auf europäischer Ebene kompensieren kann und muss.

Die Schicksale, das Leben und die Würde von Menschen kann man nicht gegeneinander aufwiegen, den Wert nicht verrechnen. Deshalb möchte ich den Gedanken, dass die Kinder im Jemen gar nicht die Möglichkeit haben, einen Schlepper für die Route übers Mittelmeer zu bezahlen, hier nicht weiter ausführen. In der Vergangenheit hat es in Bielefeld bereits ein gutes Engagement der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der politischen Akteure gegeben, um die Herausforderungen im Zusammenhang mit den geflüchteten Menschen zu meistern. Auch wir haben uns dabei eingebracht, unsere Frau Becker war Patin, ebenso wie Sie, sehr geehrter Herr Clausen.

Ohne das Engagement der Bürgerinnen und Bürger wäre es bisher nicht so gut gelaufen, und insofern ist es verwunderlich, dass Sie, Herr Oberbürgermeister, mit dem Brief und der daraus resultierenden Beschlussvorlage so einfach vorgeprescht sind. Wir können uns gut vorstellen, dass Sie sich geärgert haben: Die Oberbürgermeister von Köln, Düsseldorf und Bonn erklären sich medienwirksam zum sicheren Hafen, und Sie – sonst immer gut
vernetzt über den Städtetag NRW – sind gar nicht mit dabei. Schnell musste in der Folgewoche dann der Brief an Frau Merkel her, damit Sie doch noch was abbekommen vom Heldenglanz. Beim Anblick der Zahlen wird klar, warum es gerade Köln und Düsseldorf leichter fällt, sich zur zusätzlichen Aufnahme von Flüchtlingen bereit zu erklären: zum Zeitpunkt der Erklärung hatten beide die vorgesehene Quote für die Aufnahme von Flüchtlingen noch nicht erreicht; die Zahlen der Bezirksregierung Arnsberg vom 22.08.2018 nennen 92% für Köln und 89% für Düsseldorf; während Bielefeld zu diesem Zeitpunkt bei 107% lag.

Auf die Präsentation Ihres Briefes meldete sich verständlicherweise Herr Gnisa für das Amtsgericht Bielefeld zu Wort, der eine Überlastung befürchtete. Unsere Sorge gilt daneben vor allem dem bürgerschaftlichen Engagement: Hier könnte es unserer Meinung nach durchaus zu einer Überforderung kommen. Ob die Aufgabe leistbar sein wird, kann man aktuell leider nicht abschätzen, da Sie die Bereitschaft, zusätzliche Menschen aufzunehmen, nicht auf eine konkrete Zahl beschränken. Unser dahingehender Antrag in der entsprechenden Sitzung des JHA hat leider keine Mehrheit gefunden.

Lieber Herr Oberbürgermeister: Ihren guten Willen und das Engagement für eine gute Sache hätten wir dann noch anerkannt, wenn Sie sich als Erstes mit den Fraktionen und den wichtigen Akteuren aus der Bürgerschaft abgestimmt hätten, wie man denn eine Verbesserung für die betroffenen, aus Seenot geretteten Menschen erreichen könne, ohne über das Leistungsvermögen aller hinauszugehen. Stattdessen verkünden Sie in der Zeitung, was vier Wochen später im Rat beschlossen werden soll. „Wir schaffen das“ – diese Worte von Frau Merkel aus dem Jahr 2015 zum gleichen Themenkomplex hatten ihren Ausgangspunkt in einer moralisch richtigen Entscheidung; gleichzeitig hat sich die Bedeutung erweitert, diese Wendung hat sich leider zum Anknüpfungspunkt von allerlei Hohn und Spott gewandelt. Sie bringen es fertig, diese Wendung „Wir schaffen das“ noch einmal
Bielefeld-spezifisch weiterzuentwickeln: „Wir beschließen das“. Dieses Statement vier Wochen vor der Ratssitzung in der Presse zu verkünden, das zeugt schon von einer gewissen Hybris. Mehr als fraglich, ob Sie noch die Mehrheit der Bielefelderinnen und Bielefelder repräsentieren, und angesichts der hauchdünnen Ein-Stimmen-Oberbürgermeister-Mehrheit im Rat ist zu erwarten, dass diese Wendung „Wir beschließen das“ einmal das gleiche Schicksal ereilen wird wie „Wir schaffen das“.

Mit dieser Vorgehensweise steigern Sie den Verdruss an der Demokratie und stärken Populisten. Wenn es Ihnen wirklich um die Sache, wenn es Ihnen wirklich um eine breite Mehrheit gegangen wäre, hätten Sie stattdessen lieber die Abstimmung gesucht. So werden die Schicksale der geflüchteten Menschen von Ihnen für den Vorwahlkampf instrumentalisiert. Die Versäumnisse auf europäischer Ebene wird Bielefeld wohl kaum auffangen können. Ihre Partei ist an der Regierung beteiligt; man könnte meinen, Sie hätten andere Möglichkeiten als einen offenen Brief, um Impulse zu geben. Dieser Herausforderung der aus Seenot geretteten Menschen zu begegnen, ist als Aufgabe für einzelne Kommunen zu groß. Nicht umsonst gibt es in Deutschland den Königsteiner Schlüssel, um die Lasten entsprechend der Leistungsfähigkeit auf viele Schultern zu verteilen. Bevor einzelne Kommunen deutlich über 100% hinausgehen, sollten zunächst einmal alle ihre 100% erreichen!

Ohne ein konkretes Limit, also quasi als Blankoscheck, können wir diesen Beschlussvorschlag nicht mittragen, da wir eine Überforderung des zivilgesellschaftlichen Engagements bei der Integration befürchten. Der Änderungsantrag der Linken, diesen Blankoscheck von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auf sämtliche geflüchtete Menschen zu erweitern, ist abseits jeder Umsetzbarkeit. Von der Linken sind wir zwar Forderungen nach Blankoschecks gewöhnt, selbstverständlich werden wir aber auch diesen Änderungsantrag ablehnen.

Thomas Rüscher
(BfB Ratsmitglied)

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Bürgergemeinschaft für Bielefeld

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